Die verlorene Bibliothek

Galerie „Die verlorene Bibliothek“

 

Verlust und Zerstörung, aber auch das Wiederfinden und Versammeln von Büchern und Bibliotheken sind die Themen, mit denen ich mich in meinem Kunstprojekt „Die verlorene Bibliothek“ beschäftige. Viele historische Bibliotheken erfuhren im Laufe ihrer Geschichte ein wechselvolles Schicksal von Aufbau und Sammlung, Schenkung und Raub, Zerfall und Zerstörung.

Als im Jahr 1803 das Zisterzienserkloster Eberbach im Rheingau im Zuge der Säkularisierung aufgelöst wurde, besiegelte das auch das Ende der Bibliothek. Sie umfasste zu dieser Zeit etwa 8.000 Bände. Ein großer Teil des Bestandes wurde auf Auktionen versteigert, ein anderer als Altpapier verkauft. Aber schon knapp zweihundert Jahre zuvor war die Bibliothek im Dreißigjährigen Krieg geplündert worden. Hessische und schwedische Soldaten raubten zwischen 1631 und 1635 etwa 600 bis 700 Handschriften, Inkunabeln und Drucke. Viele sind wohl zerstört worden – manche in den Tiefen unbekannter Archive verschollen.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts kam Nigel F. Palmer, Professor of medieval German aus Oxford, in den Neunzehnhundertneunzigerjahren dem Verbleib einiger Hundert Handschriften und Inkunabeln auf die Spur. Die Ergebnisse seiner Arbeit hat er in dem Buch „Zisterzienser und ihre Bücher“ ausführlich beschrieben und dokumentiert.

Sein Verzeichnis bildet die Grundlage für „Die verlorene Bibliothek“. Der größte Teil der im 17. Jahrhundert erbeuteten Manuskripte wurde bereits wenige Jahre nach dem Raub versteigert und gelangte anschließend nach England. Heute befinden sich diese Bücher im Besitz der Bodleian Library in Oxford und der British Library in London; auch die Archive verschiedener deutscher Bibliotheken beherbergen Schätze aus dem Eberbacher Bestand.

Einhundert dieser Bücher in einer imaginären Bibliothek wieder zusammenzutragen: Darin besteht mein künstlerisches Konzept des Projekts „Die verlorene Bibliothek“. Am Anfang meiner Arbeit standen Reisen an die heutigen Standorte der Bücher, um die Bände zu sichten und zu fotografieren. Innerhalb etwa eines Jahres konnte ich so eine Auswahl von über zweihundert Buchrücken und -schnitten fotografisch zusammentragen. Sie bilden die künstlerische Basis für meine Gemälde. Unterstützt wurde ich bei allen Vorbereitungen und Reisen von Beate Wilms, die mir immer eine kluge Ratgeberin, unermüdliche Assistentin und konstruktive Kritikerin war. Bei der Auswahl des Materials habe ich mich für das ganz Naheliegende entschieden: Einhundert Bücherbilder auf Papier – wegen seiner Verwandtschaft zum häufig verwendeten Material der greifbaren Vorbilder. Und wie sich jede begehbare Bibliothek aus einzelnen Büchern zusammensetzt, so sollte sich auch meine imaginäre Bibliothek aus einzelnen, gemalten Büchern zusammenfügen.

Bildträger ist ein 300 Gramm schweres Büttenpapier. Es wird angefeuchtet und mit Nassklebeband auf einer Holzplatte aufgespannt. Nach dem Trocknen wird der Buchrücken oder Buchschnitt skizziert und dann in vielen unterschiedlich lasierten Aquarell-Farbschichten Detail für Detail herausgearbeitet. Abgeschabte Stellen, Flecken, Kratzer, Schnitte oder Brüche im Material werden präzise nachempfunden; geben sie doch Hinweise auf vielfache Benutzung und eine oft wechselvolle Geschichte. Die Verstärkung der Lichter durch partielle Weißhöhungen oder das Setzen von Schatten mit wenigen dunklen Akzenten erhöhen den Kontrast, heben die Plastizität des Objekts hervor. Doch trotz dieser realistischen Darstellung gibt sich nicht jeder Buchrücken sogleich als solcher zu erkennen. Wie etwa das blauschwarze Gebilde mit einigen hellen Flecken, das fast in seiner dunklen Hintergrundfläche verschwindet. Oder die kaum strukturierte, orangefarbene Säule, die leuchtendaus ihrer schwarzen Umgebung heraustritt. Beide offenbaren sich erst im Zusammenspiel mit den anderen Bildern als Bücher. Einige wenige Inkunabeln haben ihre Originaleinbände über die Jahrhunderte behalten. Besonders eifrige Bibliothekare beklebten manche Folianten mit bis zu vier Signaturetiketten. Andere wiederum verzichteten völlig darauf. Die Farbpalette der Bücher reicht von weiß über orange, dunkelrot, dunkelblau, grüngrau, braun bis zu schwarz.

Bei den Einband-Materialien handelt es sich um Papier, Schweinsleder, Kalbs- oder Ziegenpergament, aber auch Samt, Seide und andere Stoffe kamen zur Verwendung. Eine einzige Handschrift in der langen Bücherreihe besitzt keinen festen, sondern einen weichen Ledereinband, einen sogenannten Koperteinband. Wegen seines hohen Materialwertes war es in früheren Zeiten üblich, nicht mehr benötigtes, beschriebenes Pergament abzuschaben, zu bleichen und danach erneut zum Beschreiben oder zum Einbinden von Büchern zu verwenden. Nicht immer ließen sich alle Tintenreste entfernen, sodass diese Palimpseste wie eine schemenhafte, halbtransparente Einbandhülle wirken. Durch mehrfach lasierte Farbüberlagerungen im Wechsel mit weißen Farbschichten versuche ich, diesem Eindruck nahezukommen. Seinen ganz eigenen Reiz entfaltet mitunter eine andere Seite des Objekts: der Buchschnitt. Deshalb finden sich einige Exemplare davon im Zyklus der Hundert wieder. Da gibt es die leuchtend rot eingefärbte Schnittfläche, vor allem durch die angedeuteten Buchdeckel noch als Buch zu erkennen. Mehrfache Überlagerungen von Karmesinrot und Krapplack lassen die Farbfläche leuchten; leichte senkrecht verlaufende Pinselstriche erzeugen die Struktur der Buchseiten. Da finden sich Bücher, deren Blätter durch an den Buchdeckeln befestigte verzierte Schließen oder Schnüre verschlossen sind und so vor Staub, Getier oder Beschädigung geschützt werden. Auf den Betrachter wirken sie hermetisch und abweisend. Sind aber die Schnüre geöffnet, wähnt man sich dem Inhalt näher, und das kubische Objekt erhält plötzlich eine spielerische Leichtigkeit.

Solche Nuancen arbeite ich zeichnerisch heraus, bevor zum Schluss jedes der Bilder mit einem mattschwarzen Hintergrund aus Gouachefarbe versehen wird. So entsteht ein Kontrast, durch den das Buch-Objekt zu schweben scheint. Doch lassen sich meine Bücher nicht greifen, man kann sie nicht aus einer Gruppe herauslösen, sie nicht öffnen und schon gar nicht lesen. So bewahren sie ihr Geheimnis. Aber man kann sich ihnen zuwenden, sie anschauen. Sie erwidern den Betrachterblick wie ein Portrait, dessen Blick dem Gegenüber folgt. Meine Gemälde sind Portraits von Büchern. Wie jedes menschliche Gesicht trägt auch jedes Buch einzigartige Züge, geprägt von seinem eigenem Inhalt, seinem Charakter und seiner Geschichte. Und genau wie ein menschliches Gesicht auf diese Weise künstlerische Aufmerksamkeit zu erregen vermag, fordern Bücher in ihren vielgestaltigen Erscheinungsformen die künstlerische Beschäftigung mit diesem lebendigen Objekt geradezu heraus.

Hannes Möller